Brecht in Asia and Africa 
 
 
Sowjetunion die Stanislawski-Methode studiert. Deswegen hatte ich 
erwartet, daB sie auch Brecht naturalistisch inszenieren w0rde. Aber in 
Wirklichkeit war es ganz umgekehrt. Brecht wurde nach der Kultur- 
revolution und dem Abtritt der Viererbande wieder aktuell. Gerade jetzt,

wo man in Europa von der Brecht-Mudigkeit spricht, ist er im 
chinesischen Theater zum Tagesgesprach geworden. Die Rezeptions- 
weise ist jedoch, soweit ich sie in dieser Auff0hrung erlebt habe, eben 
sehr problematisch, ja fast oberflachlich, obwohl ich im Bezug auf 
Brecht das Wort Formalismus eigentlich vermeiden mochte. Diese 
Auffuhrung erinnerte mich an einm hnliches MiBverstehen in einer 
japanischen Vorstellung. Bevor Grusche auf die morsche Haingebrucke 
Ober dem Gletscher steigt, singt sie ein dreistrophiges Lied: 
 
                 Tief ist der Abgrund, Sohn 
                 Bruichig der Steg 
                 Aber wir wa hlen, Sohn, 
                 Nicht unsern Weg 
 
                 MuBt den Weg gehen 
                 Den ich weiB f r dich 
                 MuBt das Brot essen 
                 Das ich hab fur dich 
 
                 Mussen die paar Bissen teilen 
                 Kriegst von vieren drei 
                 Aber ob sie grol sind 
                 WeiB ich nicht dabei. 
 
    Beim Singen dieses Liedes muB der Lauf der Handlung m.E. 
unterbrochen werden. Vielleicht beschreibt Brecht mit dem ganzen Lied 
den stream of consciousness in der Sekunde vor dem gefahrlichen 
Besteigen des Stegs. Nach Max Frisch ist die Handlung des Dramas 
sozusagen eingefroren. Aber in einer japanischen Vorstellung sang die 
Schauspielerin, den Steg besteigend, das Lied. Die Musik untermalte ja 
nur den gefahrlichen Gang und die Zuschauer konnten uber den Inhalt 
des Lieds naturlich uberhaupt nicht nachdenken. Das Wortgefecht 
zwischen Azdak und Simon wurde in Japan wie auch in China sehr 
schnell gespielt, so daB das Publikum keine Zeit hatte, uber den 
Doppelsinn des Textes nachzudenken. 
     Im allgemeinen konnte man sagen: Der AuffU"hrung des 
Kaukasischen Kreidekreises gelang es, die Parabel des Stu*ckes im 
Brechtschen Sinne mitzuteilen, aber die Details wurden ziemlich 
vernachla*ssigt. Und gerade solche Details sind bei Brecht sehr wichtig,

weil sie immer mit der ganzen Struktur und mit der Reflektion, auf die 
Brecht letzten Endes abzielt, zu tun haben. Ich habe noch eine 
Auffuhrung des Kaukasischen Kreidekreises diesmal durch die 
philippinische PETA-Gruppe gesehen. Hier wurde die Parabel auf die 
Insel Mindanao verlegt. Der Text wurde stark reduziert und viele Szenen 
wurden pantomimisch gezeigt. Diese Gruppe arbeitet nicht in einem 
gewohnlichen Theater, sondern spielt manchmal auf freien PlAtzen in 
 
 
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