Iwabuchi 
 
 
                 Das unertralgliche Leben fort. 
 
    Man darf diesen Text m.E. nicht singen, sondern muB ihn rezitieren. 
Zwar hat Dessau diesen Text vertont, aber seinen Noten zufolge wird 
der Text nicht gesungen, sondern fast rezitativ gesprochen. Wenn der 
Text zu lyrisch-melodisch gesungen wird, kann das Publikum den Inhalt 
nicht reflektieren. Und in Japan behinderte die lyrische Gesangsart 
gerade eine solche Reflektion. In unseren Auffuihrungen haben viele 
Texte wegen der zu melodischen Vertonung ihre Funktion eingebu13t. 
    Nun zu einem anderen Beispiel aus der Mutter, das die besonderen 
Schwierigkeiten der Brecht-Rezeption in Japan erhellt. Ein Chor der 
Mutterendet an einer Stelle mit der Zeile: "Und er, der es begriff,
begriff 
es auch nicht." Wir wissen, daB sich dieses "es" darauf bezieht,
daB die 
Handlanger, Soldaten, Polizisten, die die Unterschicht direkt 
schikanieren, gerade aus dieser unterdru*ckten Klasse stammen. In 
Japan hat man die Zeile ungef hr so ubersetzt: "Obwohl der jetzige 
Zustand ihm vbllig klar ist, kann er ihn doch nicht akzeptieren." Dadurch

wird der Satz leicht verstandlich, bu13t aber einen groBen Teil seiner 
provokatorischen Scharfe ein. Ubersetzt man die Stelle aber 
wortwortlich, wirkt sie sehr steif. Ich habe Ubrigens diese Stelle in 
verschiedenen Ubersetzungen in anderen Sprachen nachgeschlagen 
(Lieder und Chc*re aus Die Mutter in 9 Sprachen, Aufbauverlag 1971) 
und fand, daB dieser Satz im Englischen und Italienischen einfach fehlt.

Im Franzosischen lautet er: "Et lui, il comprenait et ne comprenait
pas." 
Aber das Russische scheint nicht lakonisch genug: "I on kotoryj 
ponimal eto, v tozhe vremya i ne mog etogo ponyat'." Ich bin nicht 
imstande, die Ubersetzungsprobleme in den europaischen Sprachen zu 
beurteilen. Jedenfalls ist die japanische Sprache sehr ungeeignet for 
die Lakonik, die sich Brecht von der lateinischen Sprechweise her 
angeeignet zu haben scheint. 
     Die Ubersetzung der Song-Texte in Ubereinstimmung mit der 
 Originalmusik ist noch schwieriger. Man muB sich entweder mit einer Art

 inhaltlicher Kurzfassung begnugen oder eine neue Musik zu den 
 ubersetzten Texten komponieren. Dabei lauft man Gefahr, Brecht zu 
 vereinfachen und zu verflachen. 
     Es gab sp~ter in Japan solche Versuche. Im Jahre 1966 (und 
 Reprise danach 1983) fuhrte man Mutter Courage mit der Musik von 
 Paul Dessau auf, 1971 mit der Musik von Eisler. Ich habe mich bemtiht, 
 die Ubersetzten Lieder in die Noten von Dessau hineinzuzwangen. Die 
 Arbeit war fUr mich fast wie ein Prokrustesbett. 
     Bei den von Kurt Weill vertonten Stucken, ist man verbindlich 
 gezwungen, die Originalmusik zu benutzen. Dann nimmt man oft den 
 leichteren Weg und schreibt zu der Musik einen ziemlich willkerlichen 
 Text, der mit dem Original nicht viel zu tun hat. Das geht dann wirklich

 an die Substanz. Bei einigen Auff0hrungen war das der Fall. Nun komme 
 ich auf die Rezeptionsgeschichte zuruck. 
     Nach der sogenannten Niederlage im Kampfe um den 
 Sicherheitspakt begann das bislang monolithische System des 
 orthodoxen Kommunismus in Japan abzubrockeln. Die engagierten 
 Theatergruppen, die bis dahin angesichts des gemeinsamen Zieles fest 
 
 
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