Mahagonny. com 
 
ist ein Instrument mathematischer Untersuchung, das für 
unmögliche physikalische Experimente einspringen soll. Es ist 
das Werkzeug des Experimentierens durch reine Vernunft. Wir 
kennen nicht nur die Gesetze der Phänomene nicht, die uns 
in der unendlichen Varietät und Streuung, Fluktuation und 
Irregularität vorliegen, sondern auch ihre Ursachen nicht. 
Unsere Unwissenheit bringt mit sich, daß wir, wenn wir 
Regelmäßigkeiten entdecken, nicht einmal wissen, ob es sich 
wirklich um Gesetze handelt. Den Phänomenen gegenüber 
nehmen wir eine Haltung ein, die auf den Status von 
Zuschauern beschränkt zu sein scheint, welche die Tatsachen 
zwar sorgfältig und genau betrachten, aber zu deren 
Deutung  nicht imstande sind...  Das Paradoxon des 
Wahrscheinlichkeitskalküls-und  damit der Methode von 
Quätelet-rührt daher, daß dieses grundlegende Nichtwissen

nicht letztlich doch durch ein Wissen von der Art einer 
Entdeckung  ausgefüllt wird, daß wir das Terrain des 
Beobachters nie verlassen werden. Die Kunst des Kalküls 
besteht daher darin, dieses Nichtwissen gegen sich selbst 
auszuspielen, es zu umgehen, indem wir es sozusagen gegen 
es selbst verwenden.7 
Die hier vertretene These lautet nun nicht, dass Brecht Qu(telets 
Physique sociale kannte, man es also mit einem lektüregeleiteten 
Einfluss zu tun hat. Stattdessen ist angesichts der Tatsache, dass die 
Stadt Mahagonny einen Schauplatz bildet, der in sehr weitgehendem 
Maße   dem  sozialstatistischen  Beobachtungsszenario  Quätelets

entspricht, eher von einem historischen Apriori im Sinne Michel 
Foucaults auszugehen.8 So wie es bei Quötelet einen "universellen

Austauschmechanismus" gibt, "über den die Astronomie mit dem

Hang zur Kriminalität und die Meteorologie mit den Sterbetafeln in 
Zusammenhang steht,"9 so lässt sich auch über Mahagonny sagen,

dass dort meteorologische und soziale Turbulenzen miteinander 
korrespondieren.10 
Mahagonny, die "Goldstadt," die in einer öden Gegend an der

Grenze zur Wüste errichtet worden ist, lebt davon, dass sie den 
"Unzufriedenen aller Kontinente" das Geld aus den Taschen zieht
(BFA 
2, S. 339). "Mahagonny / Das heißt: Netzestadt!" (BFA 2,
S. 336). Ihr 
Reichtum  ist kein erarbeiteter, sondern ein aus dem  Nichts 
geschaffener: aus dem Nichts des Genießens seiner Besucher. Alle 
Vergnügungen in Mahagonny, seien es Boxkämpfe, professionelle 
Liebesdienste oder Sauf- und Fressexzesse, spielen in einem Raum, aus 
dem  jede  metaphysische  Substanz entschwunden ist.  Die 
symbolische Ordnung, der die Besucher einzig und allein unterworfen 
sind, ist das Geld als Medium einer aus allen traditionellen Bindungen 
herausgetretenen Gesellschaft. 
 
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