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begegnet, kennt "die Gerippe ekler Ungeheuer," ist also vertraut
mit 
den Dämonen der Großstadt. Aber "an den wüsten Dünen"
ragten 
plötzlich / zwanzigstöckig die Gerüste neuer Wolkenkratzer":
eine 
überraschende Wahrnehmung der städtischen Topographie, die für

die Mehrheit der Expressionisten aus Pflastersteinen, Fensterhöhlen,

Mauern besteht. Der Schluss des Gedichtes lässt sich sogar als 
positive Hinwendung zur Großstadt lesen oder doch als Beitrag zur 
Überwindung  des Antagonismus von   Großstadterfahrung  und 
Naturerlebnis: "Ganz hoch oben / reckten aus den Giebeln steinerne 
Walküren ihre Glieder.../ da ich wieder aufsah, strömten sie, 
schweratmend, milde Abendröten in den Himmel." 
Von welcher Stadt aber ist die Rede?   Deutschsprachige 
Großstadtliteratur ist fast ausnahmslos Berlin-Literatur. Das reflektiert

die Rolle dieser Stadt als Vorreiter der Modernisierung in Deutschland 
seit der Jahrhundertwende ebenso wie den widersprüchlichen Reiz, 
den die Metropole ausübte: eine "Stadt, die alle ihre Bewohner

lebendig erhält wie keine andere, und die zugleich allen fortgesetzt

zuzurufen scheint: kritisiere mich."<24  Der Autor dieser Zeilen,
Karl 
Scheffler, tut das ausgiebig. Er schreibt: "Neu-Berlin ist in Deutschland

jedenfalls das monumentalste Beispiel des modernen Dilletantismus 
[sic] in der Stadtbaukunst... Der Stadtgeist lokalisiert sich nicht, weil
er 
keiner lebendigen sozialen Gliederung unterworfen ist.'<25 
Die Stadt, welche die Expressionisten in ihren Gedichten so düster 
beschrieben, war ihm die "Hauptstadt aller modernen Häßlichkeit."26

Der zwischen 1858 und 1862 entstandene Straßenplan, auch 
"Hobrechtplan" genannt, hatte für eine Entwicklung gesorgt,
die 
schon vor dem ersten Weltkrieg "vier Millionen künftiger Berliner
zum 
Wohnen in Behausungen verdammte, wie sie sich weder der 
dümmste Teufel noch der fleißigste Berliner Geheimrat oder 
Bodenspekulant übler auszudenken vermochte."'27 Der hier zitierte

Architekturkritiker und  Städtebautheoretiker Werner Hegemann 
beschreibt 1930 in einem zornigen Rückblick, wie "bei genauer 
Befolgung des Hobrechtplans auf jedem Berliner Grundstück von 20 
Metern Breite und 56 Metern Tiefe bei mäßiger Besetzung 325 
Menschen ganz nach ihrer eigenen Fasson selig werden konnten."28 
Das sprichwörtliche Berliner Mietskasernenelend findet im Pathos der

expressionistischen Lyrik einen adäquaten Ausdruck. 
Zu dem Zeitpunkt, als Brecht mit seinem ganz anderen poetischen 
Programm auf den Plan tritt, haben sich nicht etwa die Berliner 
Verhältnisse grundlegend geändert, aber die gesellschaftlichen

Codes im Umgang mit diesen Verhältnissen werden in Frage gestellt. 
Helmuth Plessner entwickelt die von Georg Simmel zwanzig Jahre 
zuvor analysierte unwillkürliche Reaktionsform der Blasiertheit weiter

zur Distanz als Verhaltensstrategie: "Die erzwungene Ferne von 
Mensch zu Mensch wird zur Distanz geadelt, die beleidigende 
Indifferenz, Kälte und Rohheit des Aneinandervorbeilebens durch die

Formen der Höflichkeit, Ehrerbietung und Aufmerksamkeit unwirksam 
gemacht und    einer zu großen   Nähe  durch  Reserviertheit 
 
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