Anne D. Peiter 
 
seiner "negativen Operette" Musik in kulinarischen Kontexten zu

zeigen.13 
Paradoxerweise ist es dann aber Brecht, der Anti-Lukullus, der sich 
in seinen "Anmerkungen" als kulinarischer erweist als sein Wiener

Kollege. Auch bei ihm wird der Genuss zur Voraussetzung der 
Zerstörung des Genusses. Genuss entstehe in der Dramatischen Oper, 
indem sie durch rationale Elemente eine Realität anstrebe, die sie 
durch die Musik sogleich wieder aufhebe. Ausgehend vom Typus des 
sterbenden Helden, den sein Leid nicht vom Singen abhält, zeigt 
Brecht, dass der Grad des Genusses "direkt vom Grad der Irrealität"

abhängt.14 Die Epische Oper Mahagonny hingegen sei nicht nur von 
ihrer Form, sondern auch von ihrem Inhalt her auf den Genuss 
gerichtet: "Das Vergnügen sollte wenigstens Gegenstand der 
Untersuchung sein, wenn schon die Untersuchung Gegenstand des 
Vergnügens sein sollte.'15 
Brecht schlägt eine Brücke zwischen der Analyse des Spaßes
als 
des Spaßes der Form und dem Spaß als Inhalt. Indem der Vielfraß
in 
Mahagonny wörtlich das Kulinarische, die Füllung mit Genuss in-

karniert, erfährt die Dramatische Oper eine neue Beleuchtung. Sie 
ermögliche Genuss, weil sie das Publikum von der Reflexion über
ihn 
abhalte und es mit Gefühlen abspeise.16 Brechts Vielfraß hingegen

stellt eine Kongruenz zwischen Form und Inhalt her, schlingt das Fleisch

im Walzertakt und mit so exzessiver Lust in sich hinein, dass er daran 
zugrunde geht, d.h. sich mitsamt seines Genusses selbst aufhebt. 
Jakob sagt: "Alles ist nur halb /Ich äße mich gern selber."'17
Wie bei 
Kraus präsentiert sich der Tod Walzer tanzend. Brecht fasst die 
Provokation  des nicht nur kulinarischen, sondern sich  zum 
Kannibalischen steigernden Fressens folgendermaßen zusammen: 
"...wenn nicht jeder am Fressen stirbt, der zu fressen hat, so gibt
es 
doch viele, die am Hunger sterben, weil er am Fressen stirbt."18 
Der Vielfrass äußert unmittelbar vor seinem Tod das Bedauern,

sich nicht selbst fressen zu können. Auf der einen Seite erweist er
sich 
dadurch als Verwandter Baals, auf der anderen Seite sprengt er den 
kulinarischen Rahmen des musikalischen Mahls und tritt in Kontrast 
zum Hunger der Wirklichkeit: "Im Provokatorischen sehen wir die 
Realität wiederhergestellt."19 Wie bei Kraus wird jedoch die explizit-

mimetische Aufrufung der gewalttätigen Wirklichkeit vermieden, da 
sie die Logik der Selbstaufhebung durch ihren moralisierenden Gestus 
stören würde. Brecht und Weill zeigen einen Singenden, der seinen

eigenen Tod verursacht, heben die Szene aber von den erwähnten 
Sterbeszenen traditioneller Opern ab, da die Musik nicht auf die 
formale Gestaltung des Sterbens beschränkt bleibt, sondern sich ihres

Objektes kannibalisch bemächtigt. Der Vielfraß frisst nicht nur
das 
Kalb und damit sich selbst, sondern auch die Musik frisst zuerst die 
traditionellen Gefühls- und Erlebnisqualitäten und dann auch die

traditionellen Inhalte.20 Das Publikum wohnt also einem von Spaß 
durchtränkten Selbstverzehr des Genusses bei und wird nach dessen 
Beendigung aufgefordert, die Reste des Mahls zu analysieren. In 
 
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