Marie Neumullers 
 
von diesem Zeitpunkt an bis weit in die 1930er Jahre hinein fast 
durchgängig nachweisen. 
Vor diesem Hintergrund ergeben sich neue Aspekte für die 
Brecht-Lektüre: Wie lässt sich Brecht in den Kontext stadttheoretischer

Schriften (entstanden vor, zeitgleich mit, aber auch weit nach seinem 
literarischem Werk) stellen? Wie stellt sich Brecht zum Werk der im 
Umfeld des "Neuen Bauens" agierenden Architekten und Planer, zu

deren Äußerungen zum Thema Stadt? Wie verhält sich sein Werk
zur 
literarischen Produktion anderer Autoren zum Thema Großstadt? Für

die Auseinandersetzung mit Architektur und Städtebau des 20. 
Jahrhunderts wäre eine derart motivierte Brecht-Lektüre mit Sicherheit

inspirierend.9 In den nachfolgenden Ausführungen steht nicht die 
Oper Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny im Zentrum. Vielmehr 
sollen die eingangs gemachten Beobachtungen anhand der 
Gegenüberstellung von Beispielen expressionistischer Großstadtlyrik

und  von Gedichten   Brechts, gelesen vor dem  Hintergrund 
theoretischer Texte von Georg Simmel und Helmuth Plessner, erhärtet

werden. Ich konzentriere mich dabei auf literarische Dokumente, die 
sich auf die "Ebene M...die der 'Stadt' in des Wortes gängiger

Bedeutung" beziehen lassen.10 
Feindseligkeit, Bösartigkeit, Sprachverwirrung-es sind vor allem 
negativ konnotierte Schlagwörter, die Brecht in der zitierten 
Tagebuchnotiz verwendet. Aber statt--wie es die Expressionisten fast 
durchgängig tun--die Großstadt subjektivistisch aus der Perspektive

des leidenden Individuums zu beschreiben, will Brecht nach den 
Helden, den Kolonisatoren, den Opfern suchen. Das grundsätzlich 
Neue, das sich in der Großstadt manifestiert, bedarf einer eigenen

Poesie--einer Poesie, die Brecht selbst bereits wenige Monate später

im noch nicht vollendeten Stück Dickicht ansatzweise umgesetzt sieht.

Es wäre nun zu fragen, inwieweit dieses literarische Programm aus 
der  subjektiv  empfundenen  Notwendigkeit zur literarischen 
Aufarbeitung eigener Großstadterfahrung dienen sollte.  Diese 
Auffassung vertritt Franz Norbert Mennemeier: 
Brechts frühes Großstadterlebnis radikalisierte sich durch die

Konfrontation mit der deutschen Großstadt par excellence, 
Berlin, wohin er 1924 endgültig übersiedelte.  Ohne 
Berücksichtigung der Berlin-Erfahrung ist Brecht überhaupt 
nicht richtig zu verstehen. In gewisser Weise sind seine 
Wendung    zum   Marxismus  und   sein  vehementer 
Antikapitalismus nichts als erweiterte und vertiefte Berlin- 
Kritik.11 
Diese Lesart läuft jedoch Gefahr, eines der vielen literarischen Ichs,

hinter denen sich der Autor maskiert, für bare Münze zu nehmen.

Trotzdem lohnt ein Blick auf einige Selbstäußerungen Brechts und
die 
Reflektion der Stadterfahrung, die er in diesen Notizen vornimmt. Im 
ersten Brief überhaupt, den er aus Berlin schreibt, heißt es:
"Ich bin 
 
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