Was die Deutschen wirklich lasen 
 
diese Barrieren erheben und einem Mitglied der anderen Klasse Liebe 
spenden und von ihm Liebe empfangen. Eine solche Herzensseligkeit, 
wie uns Ganghofer erzählt, ist eine feste Brücke, die uns über
manche 
Fährnisse des Lebens hinweggeleitetY5 Auch Marlitts Helden und Hel-

dinnen haben oft ein Bedürfnis nach einer Liebe dieser Art. Bei einem

solchen Nachdruck auf der seelischen Verschmelzung erwartet man 
zwangsläufig auch einige sexuelle Implikationen. Doch davon ist in 
diesen Romanen wenig zu spüren. Die wahre Liebe ist hier eine Gottes-

gabe, die alle Menschen - Männlein wie Weiblein - mit ihrem bese- 
ligenden Band umschlingt. Wie sehr dieses Liebeskonzept zum rein 
Idealistischen, rein Gemüthaften tendiert, zeigt sich bei der Schilderung

der beliebten Familienszenen, die als höchste Form menschlicher Glück-

seligkeit dargestellt werden. 
In einem von Ganghofers Romanen opfert ein Graf Tasso sein ganzes 
Vermögen, um sein Familienglück zu erhalten, damit der ~Engel des

großen Glücks" wieder bei ihm Einkehr halte.26 Eine von Marlitts
Figu- 
ren ist vor allem darum ein Schurke, weil er seine Tochter durch seine 
religiöse Heuchelei um  ihr <reinstes Familienglück" betrügt.27
Auch 
Old Shatterhand denkt gern an sein glückliches Elternhaus zurück.
Alle 
diese Familien haben natürlich ein höchst traditionelles Ordnungsge-

füge: der Mann regiert, die Frau waltet in der Stille und die Kinder

müssen ihre Eltern ständig um Verzeihung bitten.28 Doch trotz dieser

Autoritätsstruktur beruhen die rein menschlichen-Beziehungen in letzter

Instanz fast immer auf der persönlichen Würde des einzelnen. 
Der gleiche Glaube an Menschenwürde liegt der Arbeitsethik zugrun- 
de, die in all diesen Romanen gepriesen wird. Marlitts Heldinnen ar- 
beiten fast ununterbrochen, ohne dabei das Gefühl von Sklavinnen zu

haben. Zufriedenheit bei der Arbeit gilt als Ausdruck einer gefestigten 
Persönlichkeit, als Zeichen dafür, daß man bereit ist, sich
zu einem 
verantwortungsbewußten Handeln zu bekennen.2 Ja, manchmal wird 
die Arbeit völlig aus der Klassenstruktur herausgelöst und als
eine 
Haltung hingestellt, die jeder wahre Christ aus freiem Willen leistet. 
Die tugendhaften Apachen und die Bleichgesichter stimmen völlig darin

überein, daß nur das, was man sich im Schweiße seines Angesichts
erar- 
beitet hat, wirklich Wert besitzt.,0 In seiner Bewunderung der Arbeit 
preist May sogar eine Stadt wie San Francisco, wo niemand Zeit 
verschwendet und alles glatt ineinandergreift. Obendrein leben hier 
25 Ebd., 1, 263.       26 Ebd., II, 288. 
27 Das Heideprinzeßchen, S. 257.- 
28 Das Geheimnis der alten Mamsell, S. 201. 
29 Winnetou, 1, 51.    30 Ebd., 1, 420. 
 
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