Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe 
Kolleginnen und Kollegen!1 
Carl Legien, einer der markantesten Gewerk- 
schaftsführer in der Geschichte der deutschen 
und internationalen Gewerkschaftsbewegung, 
hat jahrelang bis zu seinem Tod in Berlin ge- 
wirkt und auch hier seine letzte Ruhestätte ge- 
funden. Diese Gedächtnisstunde zur Wieder- 
kehr seines 100. Geburtstages kann leider nicht 
an seinem Grabe stattfinden, da es sich imOst- 
sektor befindet. Deshalb haben wir uns ent- 
schlossen, an diesem Damm, der den Namen 
unseres Carl Legien trägt, dieser großen Per- 
sönlichkeit zu gedenken. Die Zerreißung unse- 
rer Hauptstadt Berlin durch Ulbricht auf Befehl 
Chruschtschows wird hier wiederum für alle 
Weit sichtbar und offenbart das wahre Gesicht 
des kommunistischen Regimes in all seiner 
Brutalität. 
Liebe Freundel Wenn auch hier an dieser 
Stelle der Legien-Damm durch die Schand- 
mauer zerschnitten wurde, so verbindet er 
trotzdem den Westberliner Bezirk Kreuzberg 
mit dem Ostberliner Bezirk Mitte. Diese Ver- 
 
daß seine Vorstellungen von der Mitbestim- 
mung der Arbeitnehmer sich nicht von der Auf- 
fassung unterscheiden, die heute vom Deut- 
schen Gewerkschaftsbund vertreten wird. 1889 
erklärte Carl Legen Im Reichstag: ~Der früher 
absolutistische Arbeitgeber muß es sich ge- 
fallen lassen, neben sich einen Vertreter der 
Arbeiterschaft des Betriebes zu haben, der 
mitbestimmend zu wirken hat." 
Weil wir heute für die betrieblche und über- 
betriebliche Mitbestimmung der Arbeitnehmer 
und ihrer Gewerkschaften eintreten, weil wir 
auf diesem Wege bereits ein gutes Stück vor- 
angekommen sind, dürfen wir uns mit Recht 
als die Erben und Vollstrecker jener Ideen be- 
zeichnen, für die Carl Legien gekämpft hat. 
Meine lieben Freundet Die Erfolge, die Carl 
Leglen für die Arbeitnehmer erringen konnte, 
haben ihreWurzeln zu einem wesentlichen Teil 
in seiner starken Persönlichkeit. Es entsprach 
nicht seinem Wesen, Massen zu begeistern, 
aber er überzeugte durch Sachlichkeit und 
Ehrlichkeit. Cari Legien war ein kluger Politiker 
und ein Feind großer Worte. In der Diskussion 
 
Carl Legien den Realisten und Kämpfer. Er war 
Realist, weil er die Kraft der gewerkschaftlichen 
Organisation ebenso wie die Stärke seiner 
Gegner richtig einschätzte, weil er es ab- 
lehnte, sich Ziele zu setzen oder für Ziele ein- 
spannen zu lassen, die über die Kraft der ge- 
werkschaftlichen Organisation gingen oder 
keine gewerkschaftlichen Aufgaben waren. 
Viel Kritik ist an Carl Legien wegen seiner so- 
genannten Arbeitsgemeinschaftspolitik geübt 
worden. Aber es spricht für die souveräne 
Sicherheit, für das Selbstbewußtsein dieses 
Gewerkschafters und auch für die Stärke der 
Gewerkschaften, wenn Carl Legien seinen Kri- 
tikern entgegnete: ~Die Arbeitsgemeinschaf- 
ten sind nichts weiter als die Fortsetzung der 
Tarifpolltik, und das wird jeder zugestehen 
müssen: die Tarifpolitik hat uns mächtig und 
stark gemacht". 
Die Auffassung, daß eine starke Gewerk- 
schaftsbewegung mit klaren Zielen Verhand- 
lungen mit den Arbeitgebern nicht zu scheuen 
braucht, gilt auch für uns; denn grundsätzliche 
Ablehnung von Verhandlungen ist immer ein 
Zeichen von Schwäche oder von mangelndem 
 
Gewerkschaftsinternationale schuf, die 1901 
gegründet wurde. 1903 wurde er in Kopenhagen 
zum ersten,,internationalen Sekretär" gewählt. 
Als 1913 auf der Konferenz in Zürich das .in- 
ternationale Sekretariat" in ~Internationaler 
Gewerkschaftsbund" umbenannt wurde, wähl- 
ten die Delegierten Carl Leglen einstimmig zu 
ihrem Präsidenten. Der Sitz dieser ersten Ge- 
werkschaftsintemationale war Berlin. 
Cari Legien hat nie ein Hehl daraus gemacht, 
daß er starke nationale Gewerkschaftsorgani- 
sationen als die Voraussetzung für eine wir- 
kungsvolle internationale Arbeit betrachte. 
Auch in dieser Frage stimmen wir mit ihm 
überein, und es ist kein Zufall, daß sich der 
Internationale Bund Freier Gewerkschaften 
bemüht, auch in den Entwicklungsländern vor 
allem den Aufbau schlagkräftiger Gewerk- 
schaftsorganisationen zu fördern. 
Liebe Freundel Die deutsche Gewerkschafts- 
bewegung kann auf eine stolze Vergangenheit 
zurückblicken. Sie hat in ihrer wechselvollen 
Geschichte Rückschläge erlitten, aber sie hat